Lokhinova beißt sich in ihr goldenes Kreuz und starrt verständnislos auf die Borodyanka-Straße, wo links und rechts verkohlte Ruinen stehen. „Warum sind die Russen hierher gekommen? Wir haben nichts gemacht“, sagt er. Vor ihr auf dem Boden stehen vier Tabletts mit kleinen, sauren Äpfeln. Das ist alles, was Galina Lohinova übrig bleibt, um einige nationale Münzen zu gewinnen.
Borodyanka, Bucha, Irpin – nirgendwo wüteten die Russen brutaler
Fünf Monate ist es her, dass russische Soldaten die Vororte westlich von Kiew stürmten und Tausende Zivilisten töteten. Borodyanka, Bucha, Irpin: Diese Namen haben sich in das Gedächtnis der Weltgemeinschaft eingebrannt. Einst wohlhabende Gemeinden sind heute eine Horrorzone. Bewohner, die das Grauen überlebt haben, stolpern verletzt durch die verwüstete Landschaft. Das Haus von Galina Lohinova ist eines der wenigen, das die Russen verschont haben. “Wahrscheinlich, weil ich das alte Straßenschild nie entfernt habe”, sagt er und zeigt auf ein blaues Schild an der Hauswand: “Lenina 399-1” steht darauf. Die Hauptstraße von Borodyanka wurde nach dem ehemaligen russischen Führer in der Sowjetzeit benannt.
Er versteckt sich vor den Vergewaltigern
Ganz hinten im Blumengarten sitzt Galina Lohinovas Nichte Olga (22) auf einer alten Schaukel. Raketenfragmente liegen auf dem Tisch. “Ein Geschenk von Putin”, sagt Olga. Sie fand die verrosteten Teile kürzlich in den Trümmern ihres Elternhauses, das die Russen am 4. März zerstört hatten. In dieser Nacht kauerte Olga im Keller zwischen den Dosen. „Rattatatta“ sei von oben zu hören gewesen, sagt er. Über ihrem linken Auge zieht sich ein langer Kratzer über die Stirn. Doch im Vergleich zu all den Frauen, die die Russen während ihrer Besatzung vergewaltigten, kam die junge Lehrerin ungeschoren davon. Für einen Blick auf Hotspots Krieg in der Ukraine, geplante Rückkehr von Donald Trump, globale Hungerkrise: Auch nach der Coronavirus-Pandemie kommt die Welt nicht zur Ruhe. Der Blick baut deshalb ab sofort seine internationale Berichterstattung aus. Auslandsreporter Samuel Schumacher (34) berichtet jetzt live aus den Hotspots des Weltgeschehens und geht dorthin, wo sich die wichtigsten Geschichten unserer Zeit abspielen. Neben politischen Analysen, Breaking News und Experteneinschätzungen will BLICK den Puls der Erde hautnah fühlen und erzählen, wie das Weltgeschehen den Alltag der Menschen rund um den Globus prägt. Als Historiker, Trekkingführer und erfahrener Auslandsredakteur ist Samuel Schumacher bestens auf die nicht immer leichte Aufgabe vorbereitet. Bei seinem ersten Einsatz als Reporter reist er von der ukrainischen Hauptstadt Kiew in den Donbass in der Ostukraine, wo noch immer Krieg herrscht. Krieg in der Ukraine, geplante Rückkehr von Donald Trump, globale Hungerkrise: Auch nach der Coronavirus-Pandemie kommt die Welt nicht zur Ruhe. Der Blick baut deshalb ab sofort seine internationale Berichterstattung aus. Auslandsreporter Samuel Schumacher (34) berichtet jetzt live aus den Hotspots des Weltgeschehens und geht dorthin, wo sich die wichtigsten Geschichten unserer Zeit abspielen. Neben politischen Analysen, Breaking News und Experteneinschätzungen will BLICK den Puls der Erde hautnah fühlen und erzählen, wie das Weltgeschehen den Alltag der Menschen rund um den Globus prägt. Als Historiker, Trekkingführer und erfahrener Auslandsredakteur ist Samuel Schumacher bestens auf die nicht immer leichte Aufgabe vorbereitet. Bei seinem ersten Einsatz als Reporter reist er von der ukrainischen Hauptstadt Kiew in den Donbass in der Ostukraine, wo noch immer Krieg herrscht. Plötzlich vermischt sich der Sirenenalarm mit dem Zwitschern der Vögel im Sommergarten. Niemand bewegt sich. Olga lächelt nur. Als die Russen hierher kamen, gab es keine Sirenen. Niemand glaubte ernsthaft, dass die friedlichen Vororte von Kiew Ziele von Putins Handlangern werden würden. Und heute wirken die Menschen hier gelähmt. Schrecken? Sirenen? Na und! „Es hat keinen Sinn, dass ich noch einmal hier bin. Aber wohin sollen wir gehen? Wir glauben, dass der Horror kein zweites Mal zu uns zurückkehren wird“, sagt Olga.
Kopfball für Taras Shevchenko
Auf dem Dorfplatz von Borodyanka gibt es einen Markt. Männer in grünen Schürzen werben für ihr Gemüse. Eine Frau bietet farbige Socken und BHs zum Verkauf an. Dahinter ragen die verkohlten Überreste von Hochhäusern in den sommerlichen Himmel. In der Mitte des Dorfplatzes steht eine große Büste des Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861). Shevchenko hat ein Loch in der Stirn. In den Kopf geschossen. “Die Russen entweihen sogar unsere Statuen”, sagt Dmytro Timoschenko, 42, achselzuckend. Timoschenko betrieb vor dem Krieg ein Möbelgeschäft in Irpin. Als die Russen kamen, zog er seine Uniform an, schulterte sein Gewehr und fuhr immer wieder verzweifelte Menschen mit seinem grünen Mercedes-Bus aus der Gefahrenzone. Heute führt er mich, den Blick-Reporter, in das geschändete Areal. “Dort, beschädigt, dort, kaputt, das, zerbombt”, sagt Timoschenko und zeigt mit seinen starken Händen auf die Überreste seiner Heimat, nachdem die Russen abgezogen waren.
Rasenmähen vor der zerstörten Kirche Ed Sheeran
Sie hat schon lange aufgehört zu weinen. Auf ein baldiges Ende des Krieges wagt er noch nicht zu hoffen. „Die Weißrussen könnten hier bald einmarschieren. Unsere Spezialeinheiten warnen davor“, sagt Timoschenko und zeigt auf eine Gruppe Soldaten, die am Eingang von Bucha eine neue Schutzmauer aus Sandsäcken bauen. Der Mercedes-Bus fährt an einem ausgebombten Einkaufszentrum mit Kegelbahn vorbei. Es sieht aus wie ein riesiger, umgestürzter Altmetallcontainer. Aus dem verrosteten Haufen ragt ein Schild. Oben steht “Strike & Grill”. “Meet & Fry”. Das Schild erscheint zynisch inmitten der verkohlten Ruinen. Timoschenko bremst dann vor einer blauen Kirche an der Grenze zwischen Bucha und Irpin. „Ed Sheeran hat hier sein neues Video gedreht“, sagt er. Die Fassade der Kirche ist zerschossen, die Fenster zersplittert und im Innern ein geschwärztes Nichts. Doch vor der Kirche mähen zwei Gemeindemitarbeiter den trockenen Rasen. Ein absurdes Bild. „Wiederherstellung und Säuberung ist das Heilmittel der Ukrainer“, sagt Timoschenko. „Viele hier sind erfroren. Sie wissen nicht, wie sie mit all dem umgehen sollen.” Kraft für die Angst, Energie für alle Sorgen, das haben sie nicht mehr. Warum also nicht den Rasen mähen? Das tut niemandem weh. Mehr über Bucha und Borodyanka