Autor: Eine Analyse von Stefan Reinhart
Von dieser komischen Sache hängt nun das Schicksal Deutschlands ab. Die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland nähert sich dem Monster wie einem wilden, seltenen Tier im Zoo. Augen schweifen hilflos über Stahlkörper, Knöpfe, Drähte, Leitungen, Öffnungen. Auch bei genauerem Hinsehen ist nicht ganz klar, wo das Ding anfängt und aufhört, wo es oben und wo unten ist. Wer in den Prospekt schaut, weiß: Es handelt sich um eine Gasturbine von Siemens Energy, Typ SGT-A65. Diese Turbine sorgt dafür, dass russisches Gas unter hohem Druck in die Pipeline Nord Stream 1 gepumpt wird und so Deutschland mit Gas versorgt. Stuben, Hochöfen, Schulen, Eckkneipen. Es gibt einige dieser Turbinen. Was Bundeskanzler Scholz anschaut, ist verschont. Auch ohne sie könnte Russland 100 Prozent Erdgas liefern. Worum geht es also?
Scherz statt Verbrechen
Von einem Thriller zu sprechen, wäre etwas übertrieben. Ein guter Thriller braucht Raffinesse, unerwartete Wendungen. Eine kleine Liebesgeschichte. Eine einfallsreiche Handlung. Aber dieser Teil ist eher ein Witz. Jeder Redakteur würde ablehnen. Sehr ungeschickt. Zu transparent. Im Grunde ist es so: Russland bringt Deutschland im Nasenring in die Arena. Warum das nicht nur Ingenieure oder Bundeskanzler verstehen können: Vor uns, in dieser Siemens-Energiehalle, steht eine Turbine, die in Kanada komplett überholt wurde und bereit für den Weitertransport nach Russland ist. Bildunterschrift: Turbinenstart: Olaf Scholz steht vor der Turbine im Siemens-Werk Mülheim an der Ruhr, die in Kanada für die Erdgaspipeline Nord Stream 1 gewartet wird Keystone/DPA/Bernd Thissen Solche Geräte werden seit Jahren vom Gasriesen Gazprom eingesetzt, um Gas nach Westen zu pumpen und viel Geld zu verdienen. Scholz sagt auf der Pressekonferenz neben der Turbine: “Es ist einigermaßen klar und einfach: Die Turbine ist da, sie kann geliefert werden, jemand muss nur sagen, ich will sie, dann ist sie ganz schnell da.” Schließlich kann man sie nicht einfach “an der Küste von St. Petersburg” entladen.
Kafkaeskes Schattenboxen
Russland hingegen sagt, dass es keine Papiere gibt, weil der Westen schließlich Sanktionen gegen Russland verhängt hat und deshalb eine Ausnahmegenehmigung für den Import der Turbine nach Russland benötigt wird. Gleichzeitig beteuern die EU und Deutschland und generell alle Beteiligten: Nein, die Turbine fällt nicht unter die Sanktionen. Du kannst sie im Moment haben. Eine kafkaeske Schattenbox. Bestechung. Vergeltung für Deutschlands Engagement in der Ukraine, die einen Angriffskrieg von Russland erfährt – und mittendrin Olaf Scholz. An diesem komischen Ding hier im Raum, an diesem hässlichen Monster hängt sein Schicksal zumindest ein bisschen, und auch an dem der Regierung, ja, von ganz Deutschland. Scholz muss bieten, was Russland nicht braucht und nicht will. Verrückte Tage im Leben eines Bundeskanzlers.
Stefan Reinhart
Aktueller Korrespondent für SRF Deutschland
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Stefan Reinhart war bereits SRF-Korrespondent in Berlin – derzeit ist er wieder in dieser Position.