Selten wird ein Buch so einhellig gelobt wie für „Hotel Seattle“ der Amerikanerin Lily King: Nach ihrem internationalen Bestseller, dem Roman „Writers & Lovers“, ist dies ihr erster Erzählband, und auch hier die Kritiker waren überrascht. für die Anziehungskraft, mit der sich die Geschichten entwickeln, und die Präzision, mit der King zusieht, wie ihre Charaktere leben und überleben.

1. August 2022, 12:46 Uhr

Eine Mutter verbringt ihre Sommerferien mit ihrer zwölfjährigen Tochter auf einer Nordseeinsel. Seit ihr Vater vor fast zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben kam, hat sie keinen Zugang zu ihrem Kind, und die Reaktionen des Mädchens sind kalt und kurz. Oder ein Großvater, der am Bett seiner Enkelin sitzt, die nach einem Skiunfall im Koma liegt, und sie wieder ins Leben zurückredet.

Keine Angst vor Happy Ends

Es sind oft tragische Situationen, mit denen Lily King ihre Geschichten eröffnet, aber sie öffnet diese schwierigen Momente nach und nach, als wäre das Unglück ein dunkler Stein, in dem sich helle Einschlüsse finden lassen. Lily King hat keine Angst vor Happy Ends: „Meine Charaktere müssen so viel Mist durchmachen und emotional so erschüttert sein, dass ich das Gefühl habe, ihnen etwas Glück schuldig zu sein, zumindest gegen Ende.“

Dringende Erklärungen

Diese kleinen Freuden sind weder oberflächlich noch einfach, sondern brillante Entdeckungen, die dem Leben entnommen sind. Es ist die Psyche ihrer Figuren, die sie interessiert, da sie viel mehr schreibt als jede Handlung, sagt Lily King, und tatsächlich hat man das Gefühl, dass ihre Figuren von einer enormen Dringlichkeit angetrieben werden. „Eine Theorie besagt, dass wir zuerst handeln und nur eine Nanosekunde später erklärt, warum wir so gehandelt haben, wie wir es getan haben“, sagt Lily King. Wir haben also keinen freien Willen, sondern rennen unseren Taten hinterher, immer in Eile, um rechtzeitig eine Erklärung dafür parat zu haben. Und genau das fühle ich, wenn ich schreibe.”

Du lebst in Geschichten

Viele Geschichten von Lily King haben eine subtile Melancholie, aber manchmal bricht das Leben durch sie hindurch. Die Kurzgeschichte „Timeline“ zeigt, dass King alle Tonlagen beherrscht und mühelos zwischen ihnen wechseln kann. In einer angespannten Situation gibt es plötzlich ein Fangenspiel mit einem Säufer: Dann gibt es den besten Slapstick mit reflexartigen Dialogen, eine Szene, die einem schon beim Lesen den Atem raubt. „Ich möchte den Leser nicht an Fäden durch die Geschichte ziehen“, sagt Lily King, „sondern eine Welt schaffen, die so zusammenhängend und real ist, dass es sich anfühlt, als würde er tatsächlich erleben, was er liest.“

Klassentreffen

Im Interview eröffnet Lily King, wie sie in ihrem Leben alle sozialen Schichten durchquert hat und dies mehrmals getan hat. Ein alkoholkranker Vater und die Scheidung ihrer Eltern ließen sie echte Armut erfahren, der neue Ehemann ihrer Mutter und – viel später – ihr Erfolg als Schriftstellerin ließen sie in Wohlstand leben. Wahrscheinlich spielen deshalb Begegnungen zwischen verschiedenen Klassen eine so zentrale Rolle in ihrem Schreiben. „Es ist ein Thema, das uns ständig umgibt“, sagt Lily King. „Wir leben in Blasen, aus denen wir nur schwer wieder herauskommen. Es gibt so viele subtile Unterschiede zwischen sozialen Schichten, die man einfach nicht bemerkt oder von denen man nichts weiß, und ich finde es faszinierend, diese Phänomene aufzudecken und zu enthüllen. Deshalb bringe ich in meinen Geschichten immer Charaktere aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen.”

Kopfkino mit Perlen

„Hotel Seattle“ von Lily King und übersetzt von Hanna Hesse – das ist psychedelisches Kino mit Gänsehautfaktor, ein Spiel mit dem Leben, bei dem man aufpassen muss, die Perlen nicht zu übersehen, die King beiläufig in ihre Geschichten fallen lässt.

Anordnung