Stand: 06.08.2022 17:02                 

Das größte Erdgasfeld Europas befindet sich in der niederländischen Provinz Groningen. Der Stopp der Förderung ist längst vereinbart – zu groß sind die Risiken für die Anwohner. Aber bleibt es dabei? Von Michael Schneider, ARD Studio Brüssel

Laurence Mengerink entfernt einen Backstein von der Fassade seines Hauses – mit bloßen Händen werden die Fugen in der Wand schon so gedehnt. Der gesamte Giebel ist einsturzgefährdet, weshalb Mengerink den Vorgarten seit Jahren mit ein Meter hohen Holzstützen bewohnt, die das Haus vorübergehend halten. Logo SR Michael Schneider ARD Studio Brüssel Der Technische Redakteur nennt die Situation “passiv”. Sein Haus läuft ihm davon und es ist Zeit für eine Lösung. Mengerink wartet auf einen offiziellen Bericht. Haus verstärken oder komplett abreißen? Eine Frage, die auch viele seiner Nachbarn beschäftigt.

Niederlande – Erdgas um jeden Preis?

Michael Schneider, ARD Brüssel, Europamagazin, 6. August 2022

Abbruch und Neubau – erdbebensicher

Etwa 26.000 Hausbesitzer in der Provinz sind betroffen, viele alte Häuser wurden bereits abgerissen und erdbebensicher wieder aufgebaut. Grund dafür sind die Gasbohrungen in der Gegend. Sie lösen künstliche Erdbeben aus und sind in den letzten Jahren immer häufiger geworden.

Der Wendepunkt war der 12. August 2012, vor fast zehn Jahren. Ein Erdbeben der Stärke 3,6 verursachte damals große Schäden, das heftigste, das jemals in den Niederlanden verzeichnet wurde.

Das habe das Land wachgerüttelt, sagt Jan Wigboldus von Groninger Gasberaad. Seine Organisation berät Betroffene. Damals sei klar geworden, “dass in Groningen etwas nicht stimmt”.

                Auch dieser historische Bauernhof braucht nach mehreren kleinen Erdstößen in der Provinz Groningen (Niederlande) Unterstützung.  Bild: image alliance/AP Photo

Eine Einschränkung bleibt: der Notfall

Seitdem gibt es Pläne, die Förderung zurückzuziehen. Diese soll nun in diesem Winter fertiggestellt werden, danach werden die Fördertürme in Groningen nur noch als Notreserve dienen.

Aber seit der Krieg in der Ukraine ausbrach und die russischen Gaslieferungen in ganz Europa unterbrochen wurden, fragen sich viele im Land, ob dieser Notfall schon lange besteht. Eine Verlängerung der Bohrung liegt plötzlich wieder in der Luft.

Brunnen bleiben vorerst geöffnet

Niederländische Politiker bewegen sich nun vorsichtig vom Ausstieg weg. Die Versiegelung alter Bohrlöcher in Groningen wurde vorerst eingestellt.

Und beim letzten EU-Energiegipfel Ende Juli hielt Energieminister Rob Jetten die Hintertür offen: Alle EU-Staaten sollten versuchen auszusteigen, aber “in extremen Notlagen, in einer echten Krise” würden sie wieder an Groningen denken.

Gibt es Alternativen?

Aber eigentlich ist das gar nicht nötig – so sieht es Britta van Boven, Direktorin beim größten Netzbetreiber des Landes, Gasunie. Sie ist zwar nicht für den Gashandel zuständig, aber für den Transport – auch mit Nachbarländern wie Deutschland.

Der Netzbetreiber arbeite schon lange an Alternativen, sagt van Boven. Ein neues LPG-Terminal wird zusammen mit einer Stickstoffanlage zur Umwandlung des Gases gebaut.

Dies verdoppelt die Kapazität in den Niederlanden und soll bis Herbst fertig sein. Das Netz könnte dann ohne weitere Subventionen auf Erdgasimporte umstellen.

Blick auf Deutschland

Auch Deutschland könne auf diese Weise beliefert werden, so die Regie-Angaben. Gasimporte aus den Niederlanden machen derzeit knapp über 11 Prozent des deutschen Verbrauchs aus – gegenüber 55 Prozent, die zuvor aus Russland kamen.

Bis zu 35 Milliarden Kubikmeter könnten künftig aus Groningen ins deutsche Netz eingespeist werden, das wäre mehr als ein Drittel des deutschen Bedarfs.

Dafür müssen allerdings, wie van Boven einräumt, die Rahmenbedingungen stimmen: Es darf keinen schrecklichen Winter geben, Flüssiggas muss tatsächlich ankommen, und Europa muss weiter Erdgas sparen.

Viele unverständlich

Eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Wie sieht das in der Region Groningen aus, deren Einwohner seit Jahren für eine schnellere Schadenregulierung und mehr Planungssicherheit kämpfen?

Die Debatte schaffe neue Unruhe, sagt Jan Wigboldus von Gasberaad. Die ständige Ungewissheit lastet schon jetzt auf den Menschen. Laut einer Studie der Universität Groningen leiden in der Provinz jedes Jahr 10.000 Einwohner an psychischen Problemen und 16 stressbedingte Todesfälle. …