Am Rand des Raumes sitzt Pierin Vincenz (65). Vorgebeugt scrollt er auf seinem Handy. Er wirkt etwas abwesend, er schaut die Richter nicht an. Was denkst du, geht ihm durch den Kopf? Dann endlich, genau um 8.30 Uhr, ergriff Aepli das Wort: „Guten Morgen, ich begrüße Sie herzlich zur Urteilsverkündung“. Klingt, als hätte der Richter hier ein Klassenzimmer akzeptiert. Es folgt eine kurze Vorlesung in juristischem Deutsch. Die Anschuldigungen und Fakten brechen so schnell hoch, dass kaum jemand mithalten kann. Bald ist ein erstes „schuldig“ zu hören und wenig später ein „unschuldig“. Erst bei der Urteilsverkündung wird klar: Das ist kein guter Tag für den ehemaligen Raiffeisen-Chef. Nach dem Urteil: Hier verlässt Pierin Vincenz das Landgericht (00:35)
„Hohe Kriminalität“
Vincenz wird vom Bezirksgericht Zürich zu drei Jahren und neun Monaten Haft ohne Auflagen verurteilt. Der 62-jährige Ex-CEO der Kreditkartenfirma Aduno von Beat Stocker ist zu vier Jahren Haft verurteilt worden – ebenfalls ohne Bewährung. Richter Aeppli spricht von «hoher Kriminalität» und Vertrauensmissbrauch. Die Reaktion der Verlierer war so heftig wie das Urteil unanfechtbar. „Das Urteil ist falsch und es gibt Berufung“, sagte Vincenz-Verteidiger Lorenz Erni, 72, noch vor Ort. Über die Chancen einer späteren Aufhebung oder zumindest Milderung des Urteils gehen die Meinungen weit auseinander. Wirtschaftsanwalt Peter V. Kunz, 56, ist überzeugt, dass ein neues Urteil zugunsten von Herrn Vincenz und Herrn Stocker ausfallen würde: „Ich würde mich nicht wundern, wenn der Oberste Gerichtshof die Haftstrafe auf weniger als 24 Monate herabsetzen würde. “Dann müsste Vincenz nicht ins Gefängnis”, sagte Kunz gegenüber Blick TV.
Ein detailliertes Urteil soll im Sommer vorliegen
Monika Roth, Compliance-Expertin und Strafrichterin im Kanton Basel-Landschaft, beurteilt die Situation jedoch anders: «Es gibt auch Vermögensverbrecher, die wegen ähnlicher Delikte und Delikte zu fünf oder sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Daher kommt das Urteil für mich nicht überraschend.” Roth weist jedoch darauf hin, dass eine genaue Einschätzung aus der Ferne nicht möglich ist: „Als Beobachter kennen wir die Akten, Dokumente und Vernehmungsprotokolle nicht. Deshalb können wir uns – im Gegensatz zum Landgericht – kein vollständiges Bild machen“. Das vollständige Urteil, das voraussichtlich noch in diesem Sommer vorliegen wird, wird Aufschluss über die ausführlichen Diskussionen der Richter geben. Nach der Zustellung haben die Parteien 20 Tage Zeit, um schriftlich Beschwerde einzulegen. Darin müssen sie angeben, ob sie die Entscheidung ganz oder teilweise anfechten. Roth: „Um eine Neubewertung zu erreichen, muss die Verteidigung für jede Beweisannahme und -würdigung einzeln darlegen, warum die Feststellung des Landgerichts nicht gerechtfertigt ist.“ Mit der Entscheidung des BGH ist laut Roth in anderthalb bis einem Jahr zu rechnen. Wenn die Entscheidung dann an den Bundesgerichtshof verwiesen wird, dauert es wieder so lange. „Deshalb dürfte der Fall wohl in zweieinhalb bis drei Jahren abgeschlossen sein“, sagte der Strafrichter.
Zinssatz fünf Prozent
Bis zu einem rechtskräftigen Urteil gelten Vincenz und Stocker als unschuldig – und bleiben auf freiem Fuß. Aus wirtschaftlicher Sicht kommt den beiden jedoch ein ewig langer Prozess nicht besonders zugute. Die möglichen Schadensersatzforderungen von Raiffeisen und Aduno steigen von Tag zu Tag. Denn das Gesetz verlangt vom Geschädigten zusätzlich zu dem vom Gericht festgestellten Schadensersatz fünf Prozent Zinsen. Dieser Zinssatz ist seit Jahren gleich – trotz Negativzinsen wurde er nie nach unten angepasst. Und da es in Vincenz’ Fall um zweistellige Millionenbeträge geht, sind die möglichen Zinszahlungen entsprechend hoch. Das Bezirksgericht hat den Schaden bereits in drei Bereichen beziffert: Vincenz und Stocker müssen Raiffeisen und Aduno die Mehrkosten mit rund 390’000 Franken ersetzen. Wegen der Vorauszahlung der Beteiligung an der Softwarefirma Commtrain wurden die Angeklagten zu einer Entschädigung von 2,66 Millionen Franken verurteilt. Bei zwei weiteren Übernahmen (GCL und Investnet) vertritt das Gericht die Auffassung, dass Vincenz und Stocker „hauptsächlich schadensersatzpflichtig“ sind – das Zivilgericht muss aber die genaue Höhe beziffern. Er könnte sich an der von der Staatsanwaltschaft geschätzten Schadenshöhe orientieren: Bei GCL wären es 9,12 Millionen Franken, bei Investnet 12,61 Millionen.
Vincenz konnte die Summen kaum bezahlen
Insgesamt werden 24,78 Millionen Franken Schadenersatz kassiert, die mit 5% verzinst werden sollen. Das wären mehr als 1,2 Millionen Franken im Jahr, dazu kommen rund 100’000 Franken im Monat. Im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung könnte Vincenz diese Summen kaum jemals bezahlen. Der gestürzte Top-Banker klagt bereits über Millionenschulden, wie bei den Verhandlungen bekannt wurde. Keine gute Nachricht für Stocker und die anderen zu Bewährungsstrafen verurteilten Verdächtigen. Denn das Gericht verlangt für die vorgenannte Schadensersatzhaftung eine „Solidarhaftung“. Bestätigt sich diese Rechtsauffassung durch die folgenden Fälle, wird sich auch ein Zivilgericht daran orientieren müssen – und die ehemaligen Geschäftspartner schließlich auch für Vincenz finanziell haften müssen. Rechtsexperte zum Vorschlag: „Ich bin überrascht“ (03:30)