Taxi statt Krankenwagen

Zurück im Asylzentrum spricht Kurdos gegen 23 Uhr erneut einen Vorgesetzten und den Nachtwächter an. Beide Männer sind weder Krankenschwestern noch sprechen sie Türkisch. Durch seine Gesten würden sie verstehen, dass er Bauchschmerzen habe, würden die beiden später in einem polizeilichen Verhör aussagen. Der Aufseher sagt: “Es war schwer zu begreifen, wie groß sein Schmerz war.” Klar war jedoch: Sezhgin Dag musste ins Krankenhaus. Sie riefen keinen Krankenwagen, sondern setzten ihn gegen 23:10 Uhr allein in ein Taxi. Als das Auto nur 10 Minuten später im Krankenhaus ankommt, ist Dag nicht mehr ansprechbar – und ohne Puls. Die Ärzte versuchen, ihn wiederzubeleben. Erfolglos. Um 00.20 Uhr wird Sezhgin Dag für tot erklärt. Todesursache: unklar.

Der Traum vom Leben ohne Unterdrückung

An einem Samstagmorgen im Juli nahm seine Familie an einem Videoanruf teil. Aus Istanbul rufen Verlobte Nurcan (44), Mutter Hanim (60) und Schwester Medine (34) an. Bruder Mürteza (40) aus einem Flüchtlingslager im Kanton Zürich. Mutter und Verlobte sitzen auf einem Sofa, zwischen ihnen hängt ein Bild von Sezhgin an der Wand. Mürteza ist Sozialist, genau wie sein Bruder Sezgin. Wegen ihres politischen Engagements wurden sie von Erdogans Regierung strafrechtlich verfolgt und vorübergehend inhaftiert. Ihre einzige Möglichkeit war zu fliehen. Mürteza verließ 2018, Sezgin folgte zwei Jahre später. „Als meine Söhne in die Schweiz gingen, hoffte ich, dass sie endlich ein Leben in Freiheit führen könnten“, sagt Mutter Hanim. Sie selbst wollte folgen, ebenso wie Nurcan und Medine. Der Traum: Ein neues gemeinsames Leben in der Schweiz. Keine Unterdrückung. Als er davon spricht, weint Sezgins Verlobter. Auch Mutter und Schwester kämpfen mit den Tränen. Mit Trauer kommt Verzweiflung. Bereits im Dezember 2020 reichten sie einen Bericht an das Staatssekretariat für Migration (SEM) ein, um den Fall aufzuklären. Bis heute gab es keine Antworten.

Anwälte werfen viele Fragen auf

Die Familie sucht rechtlichen Beistand. Für ihre Anwälte Annina Mullis (36) und Philip Stolkin (56) stellen sich drei zentrale Fragen: «Hätte der Arzt im Spital Aarberg Sezgin Dag anders behandelt, hätte er länger dort bleiben sollen? Warum wurde kein Krankenwagen zum Bundesasylzentrum gerufen? Warum tun die Staatsanwälte ihre Ermittlungspflicht nicht?’ fasst Stolkin zusammen. Die Medienstelle der Schären, zu der auch das Spital Aarberg gehört, will sich zu dem Fall nicht äussern. Im Gegenteil, es wird betont, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für den Einsatz eines Dolmetschers erfüllt sind: „Wenn es medizinisch notwendig ist, kooperieren wir einerseits mit Dolmetscherdiensten und verwenden andererseits, wo vorhanden, die vorhandene Sprache Fähigkeiten der Mitarbeiter punktuell.” Es gibt keine Antwort darauf, warum im Fall Dag die telefonische Übersetzung eines Freundes verwendet wurde und nicht diese.

Die Arbeit wurde vorschriftsmäßig ausgeführt

Auch ORS will keine Auskunft geben. Das Unternehmen betreut im Auftrag des SEM das Bundesasylzentrum in Kappelen. Laut SEM-Vertreter Lucas Reeder verliefen die Veranstaltungen am Abend des 12. November 2020 vorschriftsmäßig: „In jedem Fall wird aufgrund des Gesundheitszustandes entschieden, ob ein Krankenwagen gerufen werden muss. Im Zweifelsfall wird die Ambulanz informiert.” Dies ist im Unterbringungskonzept (Beko) definiert. Sie definiert jedoch nicht genau, wie ein Notfall aussieht. Die Entscheidungsbefugnis liegt bei der Person, die den Notfall bearbeitet. Rieder betont auch, dass es immer die Möglichkeit gibt, einen Dolmetscher hinzuzuziehen.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt zum Todesfall

Staatsanwalt Amaël Gschwind von der Staatsanwaltschaft Bern Jura-Seenland ermittelt in dem Todesfall. Er ordnete die Vernehmung des Wachmanns, des Vorgesetzten und des Taxifahrers an und erstellte an der Universität Bern ein forensisches Gutachten. Mullis und Stolkin ist das nicht genug: Es wurden nur wenige Personen befragt, und der forensische Bericht ist weder vollständig noch unabhängig. Die Anwälte wollen weitere Personen wie den Arzt des Spitals Aarberg befragen und verlangen ein unabhängiges kardiologisches Gutachten. Doch die Staatsanwaltschaft lehnte alle zwölf Beweisanträge ab. Aus diesem Grund zog die Familie Doug vor das Berner Obergericht. Sie hat am vergangenen Mittwoch ihre Abschlusserklärung abgegeben.

Der Oberste Gerichtshof befasst sich mit dem Fall

Die Staatsanwaltschaft hält die Beweisersuchen für nicht relevant für die Aufklärung des Sachverhalts. Weitere Fragen will er nicht beantworten. Sprecher Christof Scheurer verweist auf die anstehende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs: „Der Vorwurf, die Staatsanwaltschaft erfülle den Ermittlungsauftrag nicht ausreichend, wird oft laut. Ob dies hier zutrifft, muss der Beschwerdeausschuss abschließend beurteilen.“

Die Familie will, dass der Fall beigelegt wird

Hätte Sezgin Dags Leben gerettet werden können? Diese Frage stellt seine Familie immer wieder. Sie hoffen immer noch, dass der Fall gelöst wird. „Wir wollen die Verantwortlichen für diese Nachlässigkeiten finden. Wir wollen verhindern, dass dies anderen Flüchtlingen passiert. Dass niemand denselben Schmerz erleiden muss wie wir“, sagt Schwester Medine.